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Die „Himmlische Hundertschaft“: Ein neuer ukrainischer Nationalmythos

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Rund um den Majdan, den zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw, verloren im Winter 2014 über 100 Menschen ihr Leben. Die meisten Menschen kamen zwischen dem 18. und dem 20. Februar durch gezielte Schüsse von Heckenschützen ums Leben, als sich der Volksaufstand gegen Präsident Wiktor Janukowytsch auf diese Weise dramatisch zuspitzte. Sowohl die Protestierenden als auch die Miliz hatten dabei Opfer zu beklagen. Kurz darauf floh Janukowytsch und wurde abgesetzt. Seit diesen Ereignissen sind mittlerweile fünfeinhalb Jahre vergangen. Die gefallenen Demonstranten sind als „Himmlische Hundertschaft“ in das kollektive Gedächtnis der Ukraine eingegangen. Dieser Beitrag nimmt staatliche, kirchliche und zivilgesellschaftliche Initiativen des Gedenkens an die Getöteten in den Blick.

Schleppende juristische Aufarbeitung

Auf dem Majdan in Kyjiw erinnert ein Denkmal an die „Himmlische Hundertschaft“, dazwischen ein großes Holzkreuz, hinter dem sich eine Kapelle befindet. – Foto: Anna Vrublevska

Während sich das Gedenken und Erinnern an die „Himmlische Hundertschaft“ etablieren und immer neue Formen annehmen, verläuft die juristische Aufarbeitung der Ereignisse eher schleppend. Der bis zum 29. August 2019 agierte Generalstaatsanwalt der Ukraine, Jurij Lucenko, benannte als Hauptverdächtige für die blutige Eskalation auf dem Majdan den geflohenen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, den Ex-Leiter der SBU (Sicherheitsdienst der Ukraine) Oleksandr Jakymenko und den Ex-Innenminister Vitalij Zacharčenko. Als verdächtig gelten insgesamt 350 Personen; gegen 250 sind Gerichtsverfahren eingeleitet worden. Bislang sind 35 Urteile gefällt, jedoch nur ein Angeklagter zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Bei letzterem handelt es sich um einen sogenannten Tituschka (eine Sammelbezeichnung für oft brutale Provokateure, die beim Euromajdan seitens der Miliz bzw. der Regierung zur Verängstigung der Demonstranten eingesetzt wurden), der zu vier Jahren Gefängnisstrafe in einer Strafkolonie verurteilt worden ist.1 In den fünf Jahren ist somit wenig geschehen, um die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen. Ob der neue Generalstaatsanwalt, Ruslan Rjaboschapka mehr in dieser Angelegenheit tun werden kann, wird sich noch erweisen müssen.

In den Interviews, die ich für meine Dissertation im Februar letzten Jahres auf dem Majdan geführt habe,2 reagierten die Befragten auf diesen Umstand unterschiedlich. Viele mutmaßten, dass die Ermittlungen absichtlich so langsam verlaufen, weil die neue ukrainische Regierung mit der alten unter einer Decke stecke. Andere vertraten die Ansicht, es sei besser langsam voranzukommen als unschuldige Menschen zu verurteilen. So oder so erscheint vielen ungewiss, dass die Schuldigen auch nach Abschluss aller Ermittlungen tatsächlich bestraft werden. Denn viele der mutmaßlich Verdächtigen sind mittlerweile ausgereist – meist nach Russland – und teilweise im Besitz einer neuen Staatsangehörigkeit, was die Festnahme erschweren dürfte. Für ein gründliches juristisches Ermittlungsverfahren setzen sich vor allem die Angehörigen der getöteten Demonstranten ein, die sich dafür zu Organisationen zusammenschließen. Neben der juristischen Aufarbeitung ist auch die Erinnerung an die Getöteten vielen Menschen ein Anliegen.

Die „Himmlische Hundertschaft“: Ein Mythos entsteht

Bereits am 21. Februar 2014 versammelten sich Tausende Menschen auf dem Majdan, um von den getöteten Demonstranten Abschied zu nehmen. Neben den ukrainischen Fahnen wehten einige wenige schwarz-rote Fahnen der ukrainischen Nationalisten.3 Die Särge wurden nach einander durch die Menschenmenge zu einer Bühne gebracht. Während dessen skandierten die Menschen „Held!“ und „Ruhm“. Von der Bühne wurde regelmäßig „Ruhm der Ukraine“ gerufen, worauf die Menschenmenge mit „Ruhm den Helden“ antwortete. Dieser pathetische Slogan hat seine Wurzeln in der ukrainischen nationalistischen Bewegung: Hier wurde der Zuruf nun konkret auf die getöteten Demonstranten bezogen. Neben diesem Slogan wurde auch die Losung „Helden sterben nicht“ gerufen.

Die Bezeichnung „Himmlische Hundertschaft“ wird der ukrainischen Dichterin Tetjana Domašenko zugeschrieben, welche noch am 21. Februar 2014 ein Gedicht mit dem Titel „Himmlische Hundertschaft der Majdankrieger“ verfasste und welches religiöse Symbolen und nationale Topoi verbindet. Das sakrale Attribut „himmlisch“ geht hier eine Synthese ein mit dem Begriff „Hundertschaft“ (ukr. Sotnja), der dem militärischen Sprachgebrauch entstammt und auf kosakische Traditionen zurückgeht.4 Auf dem Majdan hatten sich die verschiedenen Demonstranten zur Abwehr der Milizen in Hundertschaften organisiert. In der Bezeichnung „Himmlische Hundertschaft“ verbinden sich religiöse Vorstellungen mit einer Reminiszenz an das Kosakentum.

Dass erst die Leichen und später beim Abschiednehmen und bei der Beerdigung die Särge oft mit blau-gelber Nationalflagge, seltener mit rot-schwarzer kämpferischer Flagge bedeckt wurden, geht auf militärische Begräbnisrituale zurück. Traditionell werden Särge der Personen mit Flaggen bedeckt, die dem Land gedient haben. Die Demonstranten wurden so posthum zu Soldaten der ukrainischen Sache stilisiert – zu makellosen Helden eines Freiheitskampfes gegen einen lange übermächtigen Gegner. Auch christliche Rituale fanden sich beim Abschiednehmen auf dem Majdan wieder. Vor der Bühne stand ein großes hölzernes Kreuz, Geistliche mehrerer Konfessionen empfingen die Särge vor der Bühne und lasen Totenmessen.

Virtuelle und reelle Erinnerungsorte

Ukraineweit wurden Straßen, öffentlich Plätze, Alleen und Gassen zu Ehren der „Himmlische Hundertschaft“ umbenannt. Einige der Straßen werden auch nach einzelnen Personen, also Angehörigen der „Himmlische Hundertschaft“ benannt. So entstand in Ivano-Frankivs’k die Romyn Huryk Straße, benannt nach einem der jüngsten Erschießungsopfer. Außerdem gibt es Bestrebungen, in jedem Wohnort jedes einzelnen Angehörigen der Himmlischen Hundertschaft ein Denkmal zu errichten.

Der damalige Präsident Petro Porošenko verlieh jeder einzelnen Person der „Himmlische Hundertschaft“ posthum den Ehrentitel „Held der Ukraine“. Eine weitere Art der Würdigung zeigt sich in der Stiftung verschiedener Stipendien und anderer Auszeichnungen, die nach einzelnen Helden der Himmlischen Hundertschaft benannt sind.

Zur „Himmlische Hundertschaft“ gehören nicht ausschließlich Menschen ukrainischer Nationalität. So gehörten zu den ersten Getöteten der Armenier Serhiy Nihojan und der Weißrusse Mychajlo Žyznevskyj. In der Ukraine sind diese zwei im Januar 2014 getötete Männer mitunter die bekanntesten aus der ganzen Himmlischen Hundertschaft. Während Mychajlo Žyznevs’kyj in der Ukraine verehrt wird, wurde in Weißrussland, wo er einigen als Vaterlandsverräter gilt, sein Grabmal mehrfach verunstaltet. Seine inzwischen verstorbenen Eltern wurden beschimpft. In Armenien hingegen wurden – wie in der Ukraine – Gedenkveranstaltungen zu Ehren von Serhij Nihojan abgehalten. Eine Straße in Jerewan trägt mittlerweile seinen Namen.

Ein wichtiger Erinnerungsort ist das Internet. Im Zuge des Gedenkens an die „Himmlische Hundertschaft“ sind Erinnerungsseiten im Internet angelegt worden, mehrere Bücher herausgegeben, musikalische und filmische Werke entstanden. Die beiden Internetseiten http://nebesna.pravda.com.ua/ und https://nebesnasotnya.com/ sind ähnlich aufgebaut. Beide Seiten spielen das Klagelied „Plyve kača…“5 Die Angehörigen der „Himmlischen Hundertschaft“ werden einzeln mit Fotos und kurzen Biographien vorgestellt, die um persönliche Erinnerungen von ihnen nahestehenden Menschen ergänzt werden. Auf der Seite https://nebesnasotnya.com/ kann man sich zusätzlich mit der chronologischen Abfolge der Ereignisse auf dem Majdan vertraut machen sowie Fotografien der Proteste anschauen. Es finden sich außerdem literarische und musikalische Werke, die der „Himmlischen Hundertschaft“ gewidmet sind. Daneben existieren weitere Seiten, die die „Himmlische Hundertschaft“ zum Thema haben. Das vom ukrainisches Kultusministerium und dem Ukrainischen Institut für nationales Gedenken verantwortete „Nationale Museum der Revolution der Würde“ und die Organisation „Verwandte der Helden der Himmlischen Hundertschaft“ produziert kurze Videos, in denen Verwandte über ihre verstorbenen Angehörigen sprechen, Am Ende jedes Kurzfilmes erscheint entweder der Satz „Wir danken für die Möglichkeit die Ukraine zu bewahren“ oder „Wir danken für die Möglichkeit frei zu sein“.6

Die Sakralisierung der „Himmlischen Hundertschaft“

Die Außendwand des St. Michaelsklosters in Kyjiw. – Foto: Anna Vrublevska

Eine religiöse Deutung erfährt die „Himmlische Hundertschaft“ dank der Orthodoxen Kirche Kyjiwer Patriarchats, die sich schon früh mit den Demonstrationen auf dem Majdan solidarisiert hat. Im St. Michaelskloster in der Nähe des Majdans fanden die Demonstranten Zuflucht, als der Majdan im November 2013 das erste Mal geräumt werden sollte. Hier feiert der Patriarch der Ukrainisch-orthodoxen Kirche, Philaret II., jährlich in den Tagen vom 19. bis 21. Februar Totenmessen für die „Himmlische Hundertschaft“. An der Außenwand des Klosters findet sich eine vom Patriarch geweihte Gedenktafel, auf der die getöteten Demonstranten als „Hundertschaft der Majdan-Engel“ bezeichnet werden. Eine zweite Tafel findet sich ebenfalls an der Klostermauer, die der im Krieg in der Ostukraine gefallenen Soldaten gedenkt. Sowohl die Anbringung solcher Gedenktafeln an öffentlichen Gebäuden als auch die Praxis, den Angehörigen der Himmlischen Hundertschaft zusammen mit den Kriegsgefallen zu gedenken, sind in der Ukraine weit verbreitet.

Zur Sakralisierung der „Himmlischen Hundertschaft“ und der im Osten der Ukraine gefallenen Soldaten trägt außerdem die Errichtung von Kirchen bei wie zum Beispiel der konfessionsübergreifenden Kirche St. Nikolaus in Kyjiv in der Nähe der Polytechnischen Universität. Wie eine Tafel an der Kirchenfassade erklärt, ist sie den Universitätsangehörigen gewidmet, die bei den Majdan-Protesten oder im Krieg gefallen sind.

Die Tafel an der Kirche St. Nikolaus in Kyjiw. – Foto: Anna Vrublevska

Die Kirche ist konfessionsübergreifend und trägt damit dem Umstand Rechnung, dass die Ukraine ein überwiegend christlich geprägtes Land mit verschiedenen Konfessionen ist. Das Kreuz als zentrales christliches Symbol findet sich an den vielen Gedenkorten, die der „Himmlischen Hundertschaft“ gewidmet sind. Auch auf dem Kyjiver Majdan steht hinter der dortigen Gedenktafel ein großes Holzkreuz. Hier werden Totenmessen gefeiert, hierher pilgern prominente Politiker, Vertreter gesellschaftlicher und kultureller Einrichtungen und einfache Bürger, um den getöteten Majdanaktivisten zu gedenken. Hinter dem Kreuz befindet sich außerdem eineKapelle aus Holz, die 2014 zu Ehren der „Himmlischen Hundertschaft“ errichtet worden ist und den Namen „Ökumenische Kapelle des unbefleckten Herzens Mariens und der neuen ukrainischen Märtyrer“ trägt.

Die Monumentalisierung des Majdans: Pläne und Proteste

In naher Zukunft soll der Majdan auf Betrieben des Kultusministeriums und des Instituts für nationales Gedenken zum monumentalen Erinnerungsort umgebaut werden. Auf dem wichtigsten Schauplatz der Majdanproteste – im Abschnitt der „Allee der Himmlischen Hundertschaft“ (früher Instytut’ska) bis zur Olhyns‘ka-Straße – soll ein „Museum der Revolution der Würde“ entstehen. Diese Pläne sorgen in der ukrainischen Gesellschaft für viele Kontroversen. Noch bis vor kurzem war die zu bebauende Fläche als Tatort besonders geschützt. Vom zuständigen Gericht wurde der Ort allerdings bereits im Februar 2019 zur Bebauung freigegeben, was bei den Angehörigen der dort Getöteten für große Empörung gesorgt hat. Die Verwandten appellieren an den designierten Leiter des geplanten Majdan-Museums Ihor Pošyvajlo und an den Leiter des ukrainischen Instituts für nationales Gedenken Volodymy V’jatrovyč der juristischen Aufarbeitung der Erschießungen Vorrang vor dem Bau eines solchen Monuments einzuräumen.7 Dennoch haben am 13. Mai 2019 mit Erlaubnis des stellvertretenden Staatsanwalts die Baumaßnahmen begonnen, als Bagger daran gingen, Pflastersteine zu entfernen, auf denen fünf Jahre zuvor, während der Proteste, Menschen getötet worden waren. Noch am selben Tag setzte Hauptermittler Serhij Horbatjuk einen Baustopp durch, da doch noch weitere Ermittlungen geplant sind.8 Er konnte allerdings nicht mehr verhindern, dass die Straße an der Stelle, an der ein Demonstrant getötet wurde, bereits aufgerissen und die Pflastersteine abgetragen wurden.

Zahlreiche Menschen – und nicht nur die Familienangehörige der „Himmlischen Hundertschaft“ – sprechen sich gegen die Errichtung des architektonischen Memorials aus. Einige haben sich zu Initiativen wie „Instytut’ska bewahren“ zusammengeschlossen, die fordern, die Straße, in der die Erschießungen stattgefunden haben, in ihrem jetzigen Zustand zu belassen – einschließlich der spontan entstandenen Denkmäler und der mit Blut getränkten Pflastersteine.

Soll in das geplante Gedenkmonument integriert werden: das aus Pflastersteinen und Fotos der getöteten Demonstranten errichtete Denkmal. – Foto: Anna Vrublevska

Ungeachtet dieser Proteste hat das ukrainische Kultusministerium einen internationalen Wettbewerb für die Errichtung einer Museumsanlage ausgeschrieben. Als das beste architektonische Projekt konnte sich das Konzept des L’viver Architektenbüro „MI-Studio“ behaupten. Der Aufbau ist sehr symbolisch gestaltet: Ein kurviger Weg soll den schwierigen Weg des Kampfes der ukrainischen Nation für Freiheit symbolisieren, die ukrainische Einigkeit soll eine Mauer mit Gedenkstelen ausdrücken, auf denen die Namen der Angehörigen der Himmlischen Hundertschaft verzeichnet sind. Auf beiden Seiten der Allee sollen 107 Linden – eine für jeden der Getöteten – gepflanzt werden.9 Die Allee soll in eine Grünanlage münden. In einem Interview sprach der Museumsdirektor Ihor Pošyvajlo von der Notwendigkeit, einige Überreste des Konflikts wie Einschussstellen, Markierungen der Barrikaden sowie Kennzeichnungen von Todesstellen zu belassen. An den Stellen, wo Protestierende getötet wurden, sollen außerdem runde Bronzemedaillen, den Stolpersteinen ähnlich, angebracht werden. Der Museumsdirektor versprach, bereits vorhandene Denkmäler, konkret: ein Denkmal aus aufgeschichteten Pflastersteinen, das hölzerne Kreuz und die Kapelle, zu integrieren.10

Das als Teil des Gedächtniskomplexes geplante Museum der „Revolution der Würde“ soll die Geschichte des Majdans erzählen und seine Artefakte ausstellen. Bis das Gebäude für das Museum errichtet ist, werden bereits Ausstellungen in anderen Museen und Galerien in Kyjiw und anderen Städten im In- und Ausland organisiert. Das Sammeln von Objekten begann gleich auf dem Majdan, noch während der Proteste. Um auch Emotionen und Stimmungen für das Museum einzufangen, werden Erinnerungen der Majdanteilnehmer im Auftrag des ukrainischen Instituts des Nationalen Gedächtnis auf Tonband aufgenommen und in der Reihe „Majdan: mündliche Geschichten“ zusammengestellt.

Geplant ist eine eindrucksvolle Museumslandschaft, doch dabei verschwindet sowohl die authentische Landschaft der Proteste als auch die persönliche Note. „Das Projekt sieht auf europäische Art schön aus, aber gleichzeitig ist dort der Kampf und die Bewegung nach vorne, die Atmosphäre des Kampfes, welche die alte Instytuts’ka Straße so schön bewahrt hatte, nicht mehr zu sehen“, schreibt ukrainischer Historiker Serhij Kostež auf einer der „Himmlischen Hundertschaft“ gewidmeten Seite.11

Mitte September 2019 wurde der Leiter des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken Volodymar V’jatrovyč abgesetzt. Für das Entstehen des Majdan-Museums und die Memoriallandschaft wird diese Entlassung vermutlich keine große Konsequenzen haben können. Es kann jedoch sein, dass das Konzept nun partiell umgearbeitet werden wird und sich dadurch das Entstehen der Museumslandschaft verzögert.

Objekte des Gedenkens

In der westukrainischen Stadt Ivano-Frankivs’k wurde bereits am 15. September 2015 ein “Museum der Himmlischen Hundertschaft” eröffnet, nicht auf Betreiben der Kyjiwer Regierung, sondern mit Unterstützung des Abgeordneten Oleksandr Ševčenko. Als Autor und Gründer des Museums gilt der einheimische Künstler Roman Bončuk, welcher das Museumgebäude und die Expositionen gestaltet hat. Extra für das Museum erstellte der Künstler das fast 30 Meter lange Diorama „Chronologie des Euromajdans“. Über diesem gewaltigen Gemälde sind Porträts der Himmlischen Hundertschaft angebracht.

Das „Museum der Himmlischen Hundertschaft“ in Ivano Frankivs’k. – Foto: Anna Vrublevska

Fast alles, was in diesem Museum zu sehen ist, sind Gegenstände vom Majdan, sozusagen direkte Zeugen der Geschichte. Das Museum hat eine Fläche von etwa 500m2, welche in einzelne thematische Sektionen wie Selbstverteidigung, Medizin, Religion, Kunst unterteilt ist. Derzeit werden die Räume des Museums erweitert, um eine Dauerausstellung zu Ehren der im Osten der Ukraine Gefallenen zu ermöglichen. Für Schüler- und Studentengruppen werden Führungen angeboten. Die Leiterin des Museums, Svitlana Kartuš berichtet von hohen Besucherzahlen, darunter seien auch viele Gäste aus dem Ausland, sogar aus den Vereinigten Staaten, Kanada und Russland.

Das Museum in Ivano-Frankivs’k ist bis jetzt das einzige Majdan-Museum. Doch finden sich Ausstellungen über den Majdan landesweit in anderen Museen sowie in Schulgebäuden. Auch Denkmäler zu Ehren der „Himmlischen Hundertschaft“ sind über das ganze Land – mit Ausnahme des okkupierten Territoriums – verteilt. Die Symbolik, die die Denkmäler aufweisen, lässt sich in vier Kategorien einteilen: Kreuz, Flügel, leere Umrisse menschlicher Figuren und die Anzahl der Getöteten.

Die Flügel, besonders in der Figur von Engeln, greifen direkt das im Namen der Himmlischen Hundertschaft enthaltene Epitheton „Himmlisch“ auf. Sie stehen außerdem für die unsterbliche Seele und die Auferstehung. Somit nehmen derartige Kompositionen sowohl Bezug zum religiös-christlichen Verständnis vom Tod als auch zum Majdan-Slogan „Die Helden sterben nicht“. Dieser Satz ist neben der Losung „Ruhm der Ukraine – Ruhm den Helden“ ebenfalls oft auf den Denkmälern eingraviert, die der „Himmlischen Hundertschaft“ und der im nach wie vor andauernden Krieg gefallenen Soldaten gewidmet sind. Auch zwei Arten von Vogeldarstellungen finden sich häufig in den Denkmälern: Vögel, die zum Himmel aufsteigen oder herabfallende Vögel, die die Tragik des plötzlichen Todes symbolisieren. Leere Konturen menschlicher Körper visualisieren das Ende des irdischen Lebens und gleichzeitig die für immer hinterlassene Spur auf der Erde.

Ein anderer Typ von Denkmälern greift die Zahl der getöteten Demonstranten samt ihrer Herkunftsorte auf. Ein Beispiel dafür ist der im Februar 2018 auf Initiative des hiesigen Stadtrats errichtete „Baum der Freiheit“ in Vinnycja. Ein Kirschbaum als Allegorie der Ukraine steht auf einem Sockel, der die Kartenumrisse der Ukraine zeigt. Vom Baum fallen exakt 107 Kirschblüten, die an mehrere dünne Metallstäbe befestigt sind. In der Nacht leuchten diese Kirschblüten. Die Errichtung des Denkmals hat für einen Skandal gesorgt, da für das neue Denkmal ein Denkmal des ukrainischen Nationaldichters Taras Ševčenko in ein Schulmuseum verlegt worden ist.12 Auch wenn sich einige Zitate Ševčenkos auf dem neuen Denkmal finden, empfanden einige Menschen den Abriss des alten Denkmals als anstößig.

Praktiken des Gedenkens

In der gesamten Ukraine werden vom 18. bis zum 20. Februar, den Tagen, an denen 2014 die Situation auf dem Majdan eskalierte und mehr als 80 Menschen erschossen worden sind, Gedenktage zu Ehren der „Himmlischen Hundertschaft“ veranstaltet. Bereits einige Wochen davor finden Informationsveranstaltungen rund um die Majdanproteste statt. Am 18. Februar beginnen die Gedenktage mit einer Totenmesse.

Viele Menschen legen an diesen Tagen Blumen nieder und zünden Kerzen an. An allen drei Tagen finden abends Umzüge statt, die zu den Stellen führen, an denen Blut vergossen wurde. Diese Stellen werden dann mit Blütenblättern bedeckt. Um die „Himmlische Hundertschaft“ zu ehren, ragen am 20. Februar 107 in der Nähe des Majdans gigantische leuchtende „Strahlen der Würde“ in den Himmel.

Im Februar 2018 schmückten Menschen in Kyjiw Bäume mit Gedenkengeln zu Ehren der „Himmlischen Hundertschaft“. – Foto: Anna Vrublevska

Zur alljährlichen Tradition ist auch die Aktion „Gedenkengel“ geworden, die die ukrainische Sängerin Anželika Rudnyc’ka, die ehrenamtlich für verschiedene Organisationen arbeitet, initiiert hat. Diese Papierengel, die man auch zu Hause basteln kann, werden nicht nur in Kyjiw an Bäume befestigt. Jedes Jahr nehmen an der Aktion mehrere Städte teil. 2019 fand die Aktion erstmals in einigen Städten außerhalb der Ukraine statt.13

Für die Angehörigen war und bleibt der unerwartete Verlust schmerzhaft. Ihre Trauer ist manchmal mit ungewöhnlichen Gedenkpraktiken verbunden. Zu Ehren ihres verstorbenen Sohnes nannte die Mutter von Maksim Šymka den Wein, bei dessen Herstellung Maksym noch mitgewirkt hatte, „Himmlische Hundertschaft“.14

Das Gedenken an die „Himmlische Hundertschaft“ und die Erinnerung an die Majdanproteste sind in der heutigen Ukraine so allgegenwärtig wie es der Umgang mit der Russischen Revolution von 1917 in der Sowjetunion war. Entsprechend präsent ist das Thema in den Schulen. Für alle Schulklassen von der 1. bis zur 11. Klasse werden jedes Jahr thematische Veranstaltungen angeboten, Schüler höherer Klassen bekommen Dokumentarfilme zu sehen. Die Kinder und Jugendlichen sollen so zur Dankbarkeit gegenüber der Himmlischen Hundertschaft erzogen werden.15

Auf dem Majdan haben nicht nur über 100 Protestierende, sondern auch ein Dutzend Milizionäre bzw. Spezialkräfte ihr Leben verloren. Es hat mich interessiert, was die Menschen, die letztes Jahr auf den Majdan kamen, um der „Himmlischen Hundertschaft“ zu gedenken, über den Tod dieser Personen denken. Die meisten Gesprächspartner, die ich für meine Dissertation interviewt habe, meinen, dass die Milizionäre auch Ukrainer waren und Familien hatten, welche ihren Tod beklagen. Dennoch finden viele, dass sie nicht hätten schießen dürfen, sondern die Seiten hätten wechseln müssen. Die Ansicht, dass die Milizionäre einem Eid verpflichtet waren, teilten die meisten der Befragten nicht. Während die Angehörigen der „Himmlischen Hundertschaft“ von allen Befragten als Helden bezeichnet wurden, so bezeichneten viele die Milizionäre als Opfer. Doch keiner der Gesprächspartner möchte die Milizionäre in einer Reihe mit der Himmlischen Hundertschaft sehen. Auch irgendeine Form der Ehrung lehnten die Befragten ab. Wer auf verschiedenen Seiten der Barrikade gekämpft hat, scheint auch nach dem Tod unversöhnlich auf verschieden Seiten zu bleiben.

Fünf Jahre nach den Majdanprotesten ist das Gedenken an die „Himmlische Hundertschaft“ in der heutigen Ukraine allgegenwärtig und nimmt dabei beinahe jede erdenkliche Form an. Dazu trägt eine große Bandbreite von Akteuren bei: Staatliche Stellen streben nach einer Monumentalisierung der Erinnerung, die Orthodoxe Kirche trägt zu ihrer Sakralisierung bei und zivilgesellschaftliche Initiativen tun ihr übriges, um das Gedenken in jeden Winkel des Landes zu tragen. Die Proteste auf dem Majdan haben sehr heterogene Gruppen in einem gemeinsamen Anliegen geeint. Das Gedenken soll diese Einheit perpetuieren und dadurch den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Gleichzeitig zeigen die damaligen Majdangegner Unverständnis für die Sakralisierung der getöteten Demonstranten und zugleich Mitgefühl für die getöteten, verwundeten und „moralisch gedemütigten“ Spezialeinheiten, welche von diesem Bevölkerungsteil als ihre Helden wahrgenommen werden.

  1. Vgl. https://dt.ua/UKRAINE/lucenko-zrobiv-utochnennya-pro-zavershennya-rozsliduvannya-vbivstv-uchasnikiv-revolyuciyi-gidnosti-301685_.html (Stand: 17.02.2019).
  2. Angesprochen wurden Menschen, die während der Gedenkfeierlichkeiten 2018 auf den Majdan gekommen waren, und die 2014 zeitwillig an den Majdan-Protesten teilgenommen hatten. Daraus sind 35 ausführliche Interviews entstanden, die ich für meine Dissertation zum Euromajdan auswerte.
  3. Seit dem 20. Jahrhundert wird die schwarz-rote Flagge von nationalistischen ukrainischen Gruppen verwendet wie die von Stepan Bandera angeführte revolutionäre „Organisation ukrainischer Nationalisten“ (OUN), heutzutage von Gruppen wie der Organisation ukrainischer Nationalisten in der Ukraine und dem Rechten Sektor. Historisch wird die Flagge auf die Kosaken zurückgeführt. Als Anhaltspunkt dafür dient unter anderem das bekannte Gemälde „Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief“, welches Il’ja Repin 1880-1891 nach historischen Recherchen malte, und auf dem sowohl blau-gelbe als auch rot-schwarze Flaggen zu erkennen sind.
  4. Die Kosaken werden als freie Krieger erinnert, die für die Freiheit der Ukraine im 17. und 18. Jahrhundert kämpften.
  5. Zu Deutsch: „es schwimmt eine Ente…“; die Ente ist in der Mythologie als Vogel des Todes zu verstehen. Dieses Klagelied wurde zu einer Art Hymne für die „Himmlische Hundertschaft“. Das erste Mal wurde das Musikstück auf dem Majdan im Januar 2014 als Klagelied um einen der ersten Opfer, Mychajlo Žyznevs’kyj, dessen Lieblingslied es war, gespielt. Siehe https://ipress.ua/mainmedia/u_plyve_kacha_mistytsya_istorychnyy_kod_natsii__yaroslav_nudyk_57473.html.
  6. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=P5-35ge4Gh0&list=PLC-zkopgZenZrwfyBcYnu3XI1LeG_olBt.
  7. Vgl. Facebook-Post auf der Seite der Familie der Himmlischen Hundertschaft: https://www.facebook.com/RG.NebesnaSotnia/photos/a.1456701744642016/2147615395550644/?type=3&theater.
  8. Vgl. https://hromadske.ua/posts/na-institutskij-u-kiyevi-znimayut-brukivku-ce-stavit-pid-zagrozu-slidstvo-u-spravi-majdanu, http://maidanmuseum.org/uk/node/753 und https://www.youtube.com/watch?v=VkuN8v5pKdg, ab Minute 5:30.
  9. Bei dieser Bepflanzung handelt es sich nicht um eine Innovation der Architektengruppe, sondern um eine gängige Erinnerungspraxis. Bereits 2014 pflanzten Aktivisten an beliebigen Stellen, ob vor öffentlichen Einrichtungen oder im privaten Garten, Bäume zum Gedenken an die „Himmlische Hundertschaft“, um einen Gedenkort in der Nähe zu haben, siehe: http://tvoemisto.tv/news/lvivyan_zaklykayut_posadyty_derevo_v_pamyat_pro_nebesnu_sotnyu_62583.html.
  10. Vgl. https://glavcom.ua/Kyjiw/news/sporudzhennya-memorialu-geroyam-nebesnoji-sotni-u-kijevi-eksperti-rozpovili-pro-problemi–579273.html.
  11. http://www.nebesnasotnya.in.ua/2019/02/20/proshaj-instytutska/ (Stand: 13.05.2019).
  12. Siehe: https://www.myvin.com.ua/ua/news/events/53512.html.
  13. http://www.memory.gov.ua/news/aleyu-geroiv-nebesnoi-sotni-prikrasili-tisyachi-paperovikh-angeliv
  14. Vgl. https://www.pravda.com.ua/columns/2018/12/11/7200922/ Stand: 09.05.2019
  15. https://um-osvita.gov.ua/index.php/1178-zakhodi-z-nagodi-vshanuvannya-podvigu-uchasnikiv-revolyutsiji-gidnosti-ta-uvichnennya-pam-yati-gerojiv-nebesnoji-sotni

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